Dort, wo man den Berliner Speckgürtel im Rückspiegel und noch eine halbe Fahrstunde bis zur Oder vor sich hat, wo für den Transitreisenden der vielbesungene Märkische Wald und seine kleinere Stiefschwester, die Märkische Heide, eher in eine wellig-nichtssagende Allerweltslandschaft übergehen, zeigt sich dem aufgeschlossenen Beobachter mit Mut zu Nebenstraßen erstaunliches und bemerkenswertes, fast wie im Märchen, mitten im Wald versteckt. Allerdings: Die Bezeichnung „Hofkollektiv Bienenwerder“ scheint das alles in allem heute gut 45 Hektar große Areal ebenso zu entromantisieren wie dessen Gründungsgeschichte: Vier Menschen aus einem Berliner Hausprojekt wollten aufs Land, sich selbst versorgen und anders als in der Metropole leben. 2004 kauften sie eine Hofstelle nahe des ostbrandenburgischen Müncheberg, Jahre mussten sie politisch und juristisch darum ringen, für den Vierseithof wirklich Land dazu zu bekommen, erst nach und nach wuchs weit mehr als Selbstversorgung mit Blick zum Waldrand. „Es gab Zeiten großer Unsicherheit mit wackligen Pachtverträgen, bis wir wirklich erfolgreich waren im Kampf gegen das Landgrabbing im Osten Deutschlands“, erinnert sich Julia Bar-Tal.
Heute kann man einiges Land sogar günstig an befreundete Betriebe verpachten, freut sich über das gewachsene regionale Netzwerk der Alternativen. Die gelernte Landwirtin mit staatlichem und Demeter-Zertifikat macht gerade ihren Abschluss zum Landwirtschaftsmeister und verantwortet hier vor allem die Großtierhaltung, Grünlandwirtschaft und Bodenbearbeitung. Womit sich die Romantik übers Vordertürchen wieder einschleust, denn Bodenbearbeitung wird hier nahezu ausschließlich mit Pferden geleistet. „Damit sparen wir fossile Brennstoffe, verhindern maschinelle Bodenverdichtung und sorgen für eine bessere Krümelung des Bodens und natürlichen Dünger. Und fit bleibt man auch noch, wenn man den ganzen Tag mit den Shetland-Ponys mitläuft“, erläutert Stefan. Die genügsamen Tiere helfen auch beim Holzrücken oder bei Gemüsetransporten.
Mit dem altväterlichen bäuerlichen Familienbetrieb, in dem drei Generationen von Sonnenauf- bis Untergang Sklaven der Scholle sind, hat Bienenwerder trotzdem nichts gemein. „Wir sind um die 15 Leute, die ihre Arbeitszeit frei einteilen können. Es gibt Verantwortlichkeiten und Aufgabengebiete, aber keiner wird dort allein gelassen, gerade, wenn der Arbeitsaufwand steigt“, beschreibt Ida, die hier ihre freie Ausbildung zum Gemüsegärtner durchläuft. Julia Bar-Tal illustriert: „Wenn ich zur Großdemo nach Berlin fahre, dann muss ein anderer die Kühe füttern.“ Dass das Ganze nicht immer konfliktfrei geschieht, liegt auf der Hand.
Ebenso aber auch die hier ganz selbstverständliche Variante der Konfliktlösung: Im wöchentlichen Plenum ist jeder gleichberechtigt, Entscheidungen werden im Konsens geschlossen. Nur im Konsens. Und die Bilanz des Hofkollektivs gibt dem Verfahren recht: Das Gemüse vermarktet man erfolgreich in einem halben Dutzend Berliner Bioläden, drei Gruppen – zwei in der Hauptstadt, eine im Umland – versorgt man nach dem Prinzip der solidarischen Landwirtschaft einmal wöchentlich mit Obst und Gemüse der Saison. Auch Kühe und Hühner und ihre Produkte werden vermarktet. Bei all dem sind Leistung und Geld der Kollektivisten voneinander entkoppelt: Jeder entnimmt der gemeinsamen Kasse, was er für richtig hält. Größere Ausgaben werden im Plenum besprochen, aber auch Geld für Urlaub und Freizeit wird nicht beargwöhnt. Jeder muss regelmäßig kochen und sauber machen – wo es keine Gehaltsgruppen und niederen Tätigkeiten gibt ist jedwede Niedriglohndiskussion obsolet. „Am besten funktioniert es für dich hier, wenn du mit dir selbst im klaren bist“, gibt Ida eine persönliche Erfahrung preis.
Mit einem Leben wie in der Blase einer abgeschotteten Minirepublik hat Bienenwerder trotzdem so gar nichts zu tun: Paula Goia, die seit 2011 hier lebt, eine Gartenbau-Ausbildung abschloss und imkert, ist EU-Repräsentant von La Via Campesina. Diese weltweite Vereinigung der Kleinbauern und Kleinproduzenten landwirtschaftlicher Produkte ringt um ein stärkeres Bewusstsein für eine Agrarwende. Und Julia Bar-Tal reist regelmäßig in arabische Länder, um zu helfen, weiß um den Hunger als Waffe im syrischen Bürgerkrieg und unterstützt vor Ort das erste Ernährungs-Souveränitäts-Netzwerk Syriens. Was dann wiederum mit Romantik, aber auch mit Selbstgenügsamkeit, so gar nichts zu tun hat.
Was halten die Akteure von einem gesellschaftlichen Wandel? „Wandel? – Das heißt für mich, nicht stehen zu bleiben, immer lernen zu wollen“ – fasst Paula Goia für sich zusammen. „Viele Leute an vielen Orten, die experimentieren und ihr Miteinanderleben an jedem Tag neu aushandeln“ – das ist Wandel für Ida. Auch für Stefan sind es die vielen kleinen täglichen Schritte, die Wandel bewirken können, weswegen er seinen Horizont erweitern und nach sechs Jahren Bienenwerder nun auf einem anderen Hof arbeiten will. Natürlich zeitweise, schmunzelt er. Für Julia Bar-Tal führt Wandel dazu „selbstbestimmt, souverän und solidarisch so zu agieren, dass eine okaye Art im Umgang mit Mensch, Tier und Umwelt entsteht.“
Das mag dem Sprach-Puristen flapsig erscheinen, taugt aber zumindest zum Beweis: Mitlaufen ist hier eben nicht, es sei denn, mit den Ponys.
Darauf wiederum mag sich jeder selbst seinen Reim machen, und vielleicht auch darauf, ob man in Bienenwerder nicht die halbe Autostunde von Berlin weg ist, sondern quasi, von der Oder aus gesehen, schon ganz dicht vor dem deutschen politischen Machtzentrum steht und diesem gefährlich nah und erfolgreich vorlebt, wie Miteinanderleben Anno 2018 auch funktionieren kann.